Hartwig Gauder hat zu Recht Furcht davor gehabt, stehen bleiben zu müssen
Mensch, Hartwig.
„Ich halte dagegen“, sagt Hartwig Gauderin den Achtzigern. Wir sind auf dem Weg nach Neuhaus zu meinem ersten Marathonstart auf dem Rennsteig. Er glaubt nicht, dass ich nach dem Zieleinlauf in Schmiedefeld eine Zigarette rauchen werde und wettet. So dumm ist niemand. Doch. Damals schon. Und ich höre mir das Jahrzehnte später noch immer wieder von ihm an.
Es ist eine von vielen Episoden mit Hartwig, die mir seit gestern, seit der Nachricht von Hartwigs Tod, einfallen. Es ist eine Erinnerung, die sein Lachen konserviert. Ein Lachen, das in den vergangenen Monaten immer mühsamer wurde. Und das selbst während unserer unwiderruflich letzten Begegnung an einem öffentlichen Briefkasten nicht ganz verloren schien. Er kann nicht mehr die 400 Meter von der Wohnung bis zu diesem Kasten laufen. Zumal er anschließend noch bei der Physiotherapie vorfahren will. Ein schiefes Lächeln gibt es dennoch. Er sagt nicht, dass es wohl nichts mehr werden wird mit der Nierentransplantation. Aber er weiß, er hat verloren. Das zu sehen, das tut richtig weh. Da lässt sich nichts beschönigen. Mir ist, als verabschiede er sich in diesem Moment.
Mensch, Hartwig.
Ja, er ist der Mann, für den ich bei großen internationalen Kämpfen mitgefiebert habe. Und ja, wir haben gewonnen. Er auf der Straße und auf der Tartanbahn. Ich im Sessel, sehr aufgeregt. Gold. Und Silber. Und Bronze. Doch nicht deshalb bedauere ich, dass Hartwig nun nicht mehr ist. 23 Jahre lebt er mit jenem Spenderherzen, das zu seinem wird. Das für den Sport schlägt und für neue Herausforderungen. Das ihn befähigt, den New-York-Marathon zu gehen. Und von dem er disqualifiziert gehört – weil er zu schnell ist als Geher. Das ihn hinauf auf Japans höchsten Berg bringt. Das ihm den Sport zurück bringt. Das ihn die Nordic-Walking-Stöcke nach Deutschland holen lässt. Das seine Seele erreicht. Als er einen Pokal erringt, weil er einen Volkslauf gewonnen hat, nimmt er ihn nicht an. Reicht ihn an Heinz Krone, den Zweitplatzierten, weiter. „Der gehört euch Volkssportlern“, sagt er.
Mensch, Hartwig.
Er grinst sein jungenhaftes Lachen auch noch mit Altersfalten, wenn ich ihn treffe. Im Wald zum Beispiel. Da steht er an einem Baum, lehnt sich an. Die anderen sind längst fort. Er aber kann nicht. Prüft sich auf Herz und Nieren. Es geht nicht. Er ist zu krank. Krank bis zum Tod. Ein paar Tage später überlege ich, ob ich ihn zu dem neuen Organspendegesetz befragen sollte, das sie in Berlin debattieren. Wäre das zu übergriffig? Ich riskiere es. Er will doch dabei sein in diesem Leben. Im handy beginnt das große Rauschen. Der Grund: Hartwig sitzt im Zug von Berlin nach Erfurt. Er hat die Debatte im Bundestag live verfolgt – und ist enttäuscht.
Mensch, Hartwig.
Hättest du nicht noch einmal Glück haben können? Mit dem Herzen und mit der Niere? Du bist nur ein halbes Jahr älter als ich. Ich hätte Dir noch viel Leben gegönnt. Mit deiner Familie. Langsames Gehen. Das hast du doch immer gesagt. Fürchte dich nicht, langsam zu gehen. Fürchte dich nur, stehen zu bleiben. Du hast das gelebt, bis dein Herz endgültig gestolpert ist.
Mensch, Hartwig.
Von Esther Goldberg